Bremsen oder Ausweichen?

von Thomas Ihle   

Was beim Autofahren durch ABS und Instinkt meistens richtig gemacht wird, nämlich Bremsen vor einem Hindernis und eventuell Ausweichen, wird beim Motorrad zur Grundsatzdiskussion. Was ist besser?

Die Grundlage für diese Diskussion bildet eine Untersuchung, die Yoshinori Watanabe  10  1973 mit einer Honda CB 750, Honda CB 350F und Honda SL 125 durchführte.

Watanabe fand beim Ausweichen um ein Hindernis von 1 m Breite erstaunlich kurze Reaktionszeiten heraus, die für den kompletten Ablauf von Lenkmoment, Lenkwinkel in Relation zum erzielten Neigungswinkel, bis zum richtigen Kurs 1,05 Sekunden betrugen. Joachim Koch  7  ermittelte 1978 dagegen einen Wert von 1,5 Sekunden (mit BMW R 90 S) für die Einleitung der Kurvenfahrt bis zum richtigen Kurs - unabhängig von der Fahrgeschwindigkeit!

Watanabe kam zum Ergebnis, dass bei einer durchschnittlichen Bremsverzögerung (zwischen 0,5 - 0,8 G) der Bremsweg schon bei einer Geschwindigkeit zwischen 30 und 40 km/h länger wird als der Ausweichweg. Die Untersuchung ergab einen maximalen Neigungswinkel beim Ausweichen von 35 bis 40 Grad. Die Fahrbahn war trocken und eine Haftreibung von mindestens 0,85 muss also vorgelegen haben - sonst wären die Fahrer gestürzt.

Ausgehend von dieser Untersuchung haben Autoren  4,5,6  diesen Artikel übernommen und weiterverbreitet. Nur, was hat sich seit fast 30 Jahren motorradtechnisch verändert, abgesehen von Fahrwerk, Motor und ABS?

  1. Reifenbreite der damals verwendeten Motorräder max. 3.25 - 19 vorne; - heute: mindestens 110/90 - 17 vorne , also gut 1/3 mehr Auflage.
  2. Reifenbauart: damals Diagonal, heute Radialbauweise.
  3. Reifenmischung: heute weicher.

Wenn beim Bremsen bzw. Ausweichen der Fahrer das Gas wegnimmt und die Kupplung zieht, fängt die Berechnung der benötigten Bremsstrecke oder Ausweichstrecke zum jeweils gleichen Zeitpunkt an. 1,05 Sekunden später ist der Ausweichvorgang abgeschlossen, ohne Berücksichtigung der Fahrgeschwindigkeit.

Nur, und jetzt kommt der Ansatz: Welchen Bremsweg kann ein Fahrer erzielen, verglichen mit der Strecke, die er innerhalb von 1,05 Sekunden zum Ausweichen braucht?

Eine Untersuchung von Vavryn  9  mit 110 Testpersonen unterschiedlicher Erfahrung ergab eine Bremsverzögerung (auf Honda CB 500) von:

    3,3 m/s² als schwächster Wert (zum Vergleich: eine normale Betriebsbremsung ergibt ca. 3 m/s² )
    5,8 m/s² als Mittelwert,
    8,1 m/s² als Höchstwert.
     
Geschwin-
digkeit
Ausweichstrecke innerhalb 1,05 s Bremsweg bei Verzögerung von
 5,8 m/s²   7,0 m/s²   8,1 m/s²   8,53 m/s² 
mit ABS
30 km/h   8,75 m   5,98 m   4,96 m   4,28 m   4,07 m
40 km/h 11,66 m 10,64 m   8,82 m   7,42 m   7,24 m
50 km/h 14,57 m 16,61 m 13,76 m 11,89 m 11,29 m
60 km/h 17,49 m 23,93 m 19,82 m 17,13 m 16,27 m

Die Messungen zeigten:

 Bremsverzögerung   entspricht   Bremsen ist besser
als Ausweichen bis... 
5,8 m/s² Anfänger 43 km/h
7,0 m/s² geübter Fahrer 53 km/h
8,1 m/s² Profi 61 km/h
8,53 m/s²
mit ABS  8 
Profi 64 km/h

Weiterhin ist bei einem Haftreibungswert von 0,58 (z.B. nasser Fahrbahn) eine Schräglage von maximal 30 Grad, bei 0,7 eine Schräglage von maximal 35 Grad theoretisch möglich. Anzunehmen ist aber, dass ein Fahrer, der nur eine Bremsverzögerung von 5,8 m/s² erzielen kann, keine solche Schräglage erreicht. Das Ausweichen ist somit wie von Watanabe beschrieben nicht mit dieser Schräglage, also auch nicht mit dieser Fahrlinie zu vereinbaren, kurz: Der Fahrer kommt am Hindernis nicht vorbei. Eine wenig bekannte Untersuchung mit Fahrschülern  1  ergab sogar, dass für eine Fahrgeschwindigkeit bis 80 km/h eher Bremsen statt Auszuweichen angebracht wäre.

Ein Ausweichen setzt voraus, dass der Handlungsablauf intensiv geübt wurde — welcher Fahranfänger oder Fahrschüler kann dies schon beim ersten Mal? Vor allen Dingen, wohin soll der Motorradfahrer im Stadtverkehr ausweichen? In den Gegenverkehr? Die Untersuchung von Watanabe erstreckte sich nicht auf das Zurückfahren zur ursprünglichen Fahrlinie. Hierbei müsste man die Ausweich-/Bremszeit auf 1,5 Sekunden nach Koch ansetzen. Falls es dann doch nicht reicht, um an einem Hindernis vorbeizukommen (bei Watanabe betrug die Hindernisbreite schließlich nur 1 m) knallt der Motorradfahrer unvermindert auf das Hindernis. Bei einem Geschwindigkeitsabbau durch Bremsen wäre die Aufprallenergie in jedem Fall geringer. Somit könnte man in der Stadt ein Ausweichen in jedem Fall ablehnen.


 
  Literatur:
 

 1  —  ADAC Schriftenreihe Straßenverkehr Heft 31. Bremsen? Ausweichen? Die Überlebensfrage für Motorradfahrer in Notsituationen. ADAC 1985.
 2  Bayer, Bernward: Auslegungssache. Untersuchungen zur Fahrdynamik.
PS 10/1986. Seite 70 ... 76.
 3  Bayer, Bernward: Kontaktsuche. Reifenhaftung auf der Fahrbahn.
PS 2/1987. Seite 40 ... 44.
 4  Bönsch, H.W.: Einführung in die Motorradtechnik.
Motorbuch Verlag Stuttgart. 3. Auflage 1981.
 5  Breuer, B.: Skriptum Vorlesung Motorräder.
Fahrzeugtechnik TH Darmstadt. Fzd Darmstadt. 1985.
 6  Helling, Jürgen: Umdruck zur Vorlesung Krafträder.
Institut für Kraftfahrwesen RWTH Aachen. 1985.
 7  Koch, Joachim: Experimentelle und analytische Untersuchungen des Motorrad-Fahrer-Systems. Dissertation. Berlin 1978.
 8  Präckel, Jürgen: Bremsverhalten von Fahrern von Motorrädern mit und ohne ABS. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen. Fahrzeugtechnik. Heft F 18. Bergisch Gladbach 1996.
 9  Vavryn, Kurt / Winkelbauer, Martin: Beurteilung der Bremsbedienung bei Motorradfahrern. Zeitschrift für Verkehrsrecht. 4/2001.
 10  Watanabe, Yoshinori / Yoshida, Keigo: Motorcycle handling performance for obstacle avoidance. San Francisco, USA. 1973.


 
  Über den Autor

 
  Thomas Ihle  

Thomas Ihle

seit 1985 Fahrlehrer,
davor Polizeibeamter
(u.a. Unfallermittler in Stuttgart),
 
lebt und arbeitet in Krefeld.
Spezialgebiet: Motorradphysik

   
    E-Mail    Homepage:  www.thomas-ihle.de 
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